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Werner Schreib,
Auszüge aus theoretischen Aufsätzen


Ich kannte César, Christo, Fontana und Giger unter ganz anderen Vorzeichen. Dank seiner kunsttheoretischen Abhandlungen zu den «halbmechanischen Herstellungsverfahren» hat mir Werner Schreib diese Künstler und ihre Werke in neuem Licht gezeigt. Es ist egal, ob Schreibs Ausführungen richtig sind oder nicht: Sie eröffnen eine zusätzliche, schlüssige und spannende Sichtweise.

Die Texte und das Portrait sind entnommen dem Ausstellungskatalog «Kunst der mittleren Generation» (SS. 29-32 sowie Bildteil), hrsg. vom Schleswig-Holsteinischen Landesmuseum in Schleswig, Schloss Gottorf, erschienen im Herbst 1971.

«Katalog Schloss Gottorf»


Mein Ziel ist die Synthese; denn ich will eine größtmögliche bildnerische Komplexität erreichen, was gleichbedeutend ist mit Freiheit, auch dann, wenn ich zugeben muß, daß diese Freiheit limitiert ist. Die Überlegungen in dieser Richtung führten mich schließlich zu der konsequenten Haltung, die — wie ich hoffe — in meinen Arbeiten sichtbar ist. Kunst und Technik sind keine unüberbrückbaren Widersprüche, zwischen denen man zu wählen hat. Im Gegenteil. Ich sehe in ihnen zwei aufeinander bezogene Aspekte, deren Präsenz in doppelter Hinsicht für meine Arbeiten unerläßlich geworden ist. Zunächst ist da die intellektuelle Seite, die sich mit der Wirklichkeit beschäftigt, indem sie Wirklichkeit reflektiert. Wirklichkeit wird heute in überwiegendem Maß als Technik wahrgenommen. Sie ist in unserer Umwelt stets neu erfahrbar: als Auto, Signal, Telefon, Fernsehen oder — im weitesten Sinn — als Erzeugnis der Konsumgüterindustrie. Das alles ist Teil der ästhetischen Wahrnehmung. Sie wird vom Künstler umgesetzt in kodierte Zeichen.

Der zweite Aspekt betrifft die physische Seite des Werkes, also seine Herstellung. In dessen Verlauf ergibt sich das Problem der Präsentation von Technik im Werk. Sie muß — wie auch immer erkennbar — in einer Weise möglich werden, die zu einer Transformation führt. Alles andere ist pure Tautologie oder ein technisches déja vue.

Dieser recht komplizierte Sachverhalt wird verständlich durch die genaue Beschreibung der verschiedenen Herstellungsverfahren, die meinen Arbeiten zugrunde liegen. Hauptsächlich kommt die Cachetage zur Anwendung. Sie ist eine Siegeltechnik (frz. Le cachet = Siegel), ist präzise und hat hohe synthetische Qualitäten, weil sie sich mühelos mit anderen halbmechanischen Herstellungsverfahren kombinieren läßt. Eine mit Quarzit angereicherte und mit Pigmenten homogen eingefärbte Kunstharzpaste, die innerhalb einer begrenzten Zeit an der Luft versteinert (Caparol-Dispersions-Spachtelputz), wird spontan auf eine präparierte Holztafel aufgetragen. Mit verschieden großen Spachteln wird die amorphe Paste zu Flächen und Reihen strukturiert. In die noch weiche Oberfläche der Paste werden technische Fundstücke (objets trouvées) abgedrückt. Diese Fundstücke (Muttern, Schrauben, Hülsen, Zahnräder, Winkeleisen etc.) sind Verschleißprodukte, Relikte der technischen Welt, die durch Abnutzung ihre Funktion verloren haben. Sie werden vom Künstler zu Siegeln umfunktioniert. Beim Siegeln erfolgt die Wahl der Objekte spielerisch.

In zügig durchgeführten Arbeitsgängen folgen weitere Manipulationen. Die Bildhaut wird zerschnitten (Découpage), zerkratzt (Grattage), zerstochen (Piquage), mit amorpher Paste besudelt (Maculage) oder mit mancherlei anderen Spuren versehen, die an die sinnliche Intelligenz des Auges appellieren. Nach Maßgabe bildnerischer oder arithmetischer Gesetzmäßigkeiten entstehen Formkomplexe und Serien. Sie überwiegen und bestimmen das Aussehen der Bilder. Durch Eingriffe wird die Stereotypie der Reihen absichtlich gestört, bisweilen auch zerstört. Als ein genau kalkuliertes Axiom liegen den verschiedenen, sich oft widersprechenden Artikulationen eine Anzahl von Spielregeln zugrunde. Sie wurden von Lattanzi und mir 1961 in einem Manifest formuliert. Im wesentlichen geht es dabei um die Organisation von Grundgesten: Vertikal, Horizontal, Kreuz, Kreis, Zickzack, Ondulation und Spiral. Dieser Kodex wird durch einfache Addition zu immer neuen Gebilden kombiniert und durchgespielt. Abschließend werden die Randzonen des Bildes farbig in Bezug gesetzt zum pastosen Bildkern. Tiefe ist nicht mehr als meßbare Relieftiefe. Dafür wird die Bewegung des Auges auf dem Bildgrund intensiviert. Unser Blick erliegt der Lust der Fülle.

Strukturen und Ornamente empfindet das sensible Auge als angenehm, besonders wenn die serielle Anordnung der Muster zueinander modifiziert wird, wenn die Stereotypie der Reihen gebrochen ist. Viele hervorragende Werke der Gegenwart lassen sich ohne Mühe auf diesen einfachen Sachverhalt hin überprüfen. Ihnen gilt mein Interesse. Mit den Bildern hat sich also auch die Technik des Machens geändert. An die Stelle der klassischen Malerei mit Pinsel und Palette sind Verfahren getreten, die sich inzwischen als «halbmechanische Herstellung» etablieren konnten. Die Hinwendung vieler Künstler in Richtung zu den hier angedeuteten Verfahren läßt ein Phänomen erkennen, das unserer Zeit immanent zu sein scheint. Es kommt darin ein pathisches Bewußtsein zum Ausdruck, dem es gefällt, in einfachen Gesten dargestellt zu werden. Am ehesten läßt es sich mit Knopfdrücken vergleichen. Vielleicht aber ist es auch Einfalt oder ein Automatismus, etwas, das gewissermaßen ohne Sperrmechanismus abläuft. Die halbmechanischen Herstellungsverfahren sind antiakademisch, sie können von jedermann, jederzeit ohne Vorkenntnis praktiziert werden, vorausgesetzt, die Bereitschaft dazu ist vorhanden. Diese Erkenntnis halte ich für wertvoll, denn die Bezugspunkte sind offenkundig. Die Utopie einer demokratischen Kunst, verbunden mit einem Objektivierungszwang, dem sich keiner mehr entziehen kann, wird zum neuen, gravierenden Impuls für bildnerische Arbeit.

(Kunst und Technik)




Halbmechanische Herstellungsverfahren sind Collage (Décollage), Frottage, Fumage und Décalcomanie. Ferner die Grattage (Kratzung), Découpage (Zerschneidung), Brulage (Brennung), Cachetage (Siegelung) u. v. m. Die halbmechanische Herstellung kennt viele bildnerische Vorformen, die sich teilweise schon in früheren Epochen nachweisen lassen. Besonders der Surrealismus ist beziehungsreich. Von seiner Ideologie entkleidet, wird er nun zur Fundgrube für die experimentelle Werkstatt. Einige der Techniken sind heute allgemein geläufig. Geht man von ihnen aus, läßt sich ein umfangreicher, methodologisch geordneter Katalog zusammenstellen. Zahlreiche namhafte Künstler der Gegenwart praktizieren bewußt oder unbewußt Verfahrensweisen, die sich eindeutig als halbmechanische Herstellungsverfahren klassifizieren lassen, z. B. Cloutage = Nagelung (Uecker), Empaquetage = Verpackung (Christo), Piquage = Stechung und Découpage = Zerschneidung (Fontana), Clivage = Spaltung (Kolar), Effacage = Verwischung (Rauschenberg, Vostell), Coudrage = Nähung (Manzoni, Micus), Fascinage = Bündelung (Kricke), Pressage = Zusammenpressung (César) usw.

(Kunst und Technik)




ein blick auf bilder der mitte des XX. jahrhunderts belehrt, daß « reihung . . . addition, multiplikation und juxtaposition » als zulässige mittel rationaler durchdringung avancierten. die arithmetische manipulierbarkeit der formkonstanten rückt dieselben bilder in unmittelbare nähe dessen, was zuvor noch als « ornament » bezeichnet wurde. allerdings sind wir zur zeit noch nicht imstande, das spezifisch neue dieser bilder treffender mit einem anderen wort zu belegen. in zeiten von umbrüchen und großen strukturveränderungen hat sich die sprache noch immer genötigt gesehen, alte, bestehende begriffe abzulösen oder mit neuen zu verbinden.

(zur rehabilitierung des ornaments)




die bilder sind nur ein modell der « idee », die dahinter steht, und die wir schlicht als « zeitgeist » bezeichnen können. « das formprinzip, nach der sie gemodelt wird, bestimmt sie auch in der realität « (leibniz), jener wirklichkeit nämlich, in die wir eingebettet sind, die aus intervallen, impulsen und zahlen besteht. selbst die relikte der technischen verwertungswelt bilden darin keine ausnahme. ihre gestaltgüte ist entweder vertikal, kreisrund, gekreuzt, onduliert, zigzag oder spiral. ich sehe keinen hinderungsgrund für die künstlerische phantasie, sich diesen komplexen sachverhalt mit technischer intelligenz anzuzeigen. die fülle hervorragender bilder in unserem « monadologisch » geordneten XX. jahrhundert ist doch nur ein weiteres indiz für die mächtigkeit des geistes, der unsere welt erfüllt. wäre richtig, was die skeptiker sagen, daß die mechanik den menschenzum verstummen bringt, würden wir keine bilder mehr haben, keine literatur mehr und keine musik.

(zur rehabilitierung des ornaments)




scheinbar völlig diskontinuierlich befinden sich in meinen bildern häufig eingesiegelte worte, wortfragmente oder zahlen, sogar «stilistische zitate» aus den bildern anderer maler kommen vor, oder siegel von münzen mit den bisweilen darauf abgebildeten personen. diese «zitate», bildnerische mittel also, sollen einen besonderen sinnbezug herstellen. es ist nicht meine absicht, diese zitate hier im einzelnen zu kommentieren, denn sie sind sehr zahlreich und erscheinen immer wieder in neuen variationen: zip, zip, ES, kille kille, wau wau, wabbel wabbel, dodo usw.; sie haben einen deutlichen bezug und stellenwert, meinen sexualsymbole, ausdrücke aus dem bereich der psychopathologie oder der literatur. so wird das zitat «zip zip» zu einem schlüssel für neue «doors of perception» — stellt die gedankliche verbindung zu huxley's «brave new world» her, zur lust am synthetischen objekt, zum schönen mädchen lenina, zu soma, zur meskalindroge und zur halluzinatorischen welt des traumes. das ist jenseits aller esoterik intendiert, das poetische kalkül jedoch gestattet uns zu träumen und wird dadurch um vieles zwingender.

(bericht aus der werkstatt) 




Als ästhetisches Bewußtsein verstehe ich die Summe aller meiner Erfahrungen . . . Ich stimme mit jenen Kunstsoziologen überein, die sagen, der kreative Prozeß des Künstlers ist eine Reflektion der Wahrnehmungen. Seine eigenen Intentionen werden weitgehend von diesen vorherbestimmt. Mit dem Überwiegen jener Wahrnehmungen, die von den Erzeugnissen der technischen Serienfabrikation, von minutiös ablaufenden Zeitplänen oder anderen periodisch wiederkehrenden Intervallen bestimmt werden, wird auch das Interesse des Künstlers neu koordiniert. Analog zu seinen Wahrnehmungen und Erfahrungen wird er versuchen, diese Strukturen als Rohmaterial für sein Medium zu verwenden. In diesen Strukturen glaube ich zwei dominierende Tendenzen zu erkennen. Sie bekamen für meine eigenen Arbeiten eine außerordentliche Bedeutung, obgleich sie bisher in anderen Zusammenhängen bekannt sind, aber nur isoliert betrachtet wurden: Das Destruktive und das Ornamentale. Destruktion verstehe ich als einen ästhetischen Prozeß, nicht unähnlich jenem modernen Industrieprozeß, der auf Verschleiß und Vernutzung beruht. Ornament sehe ich als Stil-Problem im Sinne einer Entindividualisierung des kreativen Prozesses zugunsten einer halbmechanischen Herstellung.

(Aus: semaion extra 3, Februar 1967)




diejenigen bilder, die aus meiner sicht für unsere gegenwart konstituierend sind, haben sich weit entfernt von jener expressionistischen willkür, die den « geist als widersacher der seele » (klages) empfindet. vieles deutet darauf hin, daß sich die evolutionen im bildnerischen medium eher in die richtung einer neuen klassizität entwickeln als in die richtung einer romantisierenden wesensschau. doch man hüte sich, dieses postulat allzu dogmatisch zu verstehen. es gibt keine geistige äußerung, die völlig abgelöst von vorausgegangenen oder gleichzeitigen phänomenen zu bestehen vermöchte; auch bilder können nur in unwägbaren verflechtungen der « sinnzusammenhänge• verstanden werden, wie das zu allen zeiten der fall war. darin unterscheidet sich die gegenwart in nichts von der vergangenheit. im augenblick scheint es angebracht, eher weniger zu erwarten als zuviel. in der einschränkung und reduzierung auf weniges erweist sich mitunter eher die größe und stärke, besonders, wenn diese ihren adäquaten ausdruck im multiplikatorischen gefunden hat.

(zur rehabilitierung des ornaments) 




Philosophie und Kunst sind nicht als Anweisungen zu verstehen, die an ein Publikum gerichtet sind, rechtschaffener (oder verderbter) zu leben. Sie sind auch kein Regulativ unserer Gesellschaft — etwa nach dem gängigen Amerikanismus „How to win Friends?“ —, sie sind unabhängige Medien, die sich der Mensch geschaffen hat. Mit ihrer Hilfe vermag er der Dumpfheit zu entkommen — und wahrscheinlich hat er es heute nötiger denn je.

(Aus: semaion extra 3, Februar 1967) 


«Portrait»
Werner Schreib, Portrait (Foto: Thomas Cugini)


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